Erweitertes Auskunftsrecht der Finanzverwaltung widerspricht dem Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung
Hamburg, Frankfurt a. M., den 31. März 2025
Im Rahmen einer Evaluation zu den Bestimmungen der Steuerhaftung hat der Bundesrechnungshof auf mögliche Durchsetzungshindernisse hingewiesen, die im Zusammenhang mit § 15b Abs. 8 InsO stehen. Es erfolgt zwar keine grundsätzliche Beanstandung der Auflösung der Pflichtenkollision des Geschäftsleiters zu Lasten des Fiskus. Die Finanzverwaltung würde jedoch Schwierigkeiten bei der Anwendung der Vorschrift begegnen. Bislang sei es ihnen nicht möglich, den genauen Zeitpunkt des Eintritts der Insolvenzreife zu ermitteln, was jedoch Voraussetzung für die Anwendung des § 15b Abs. 8 InsO sei. In diesem Zusammenhang wird durch den Bundesrechnungshof angeregt, der Finanzverwaltung die erforderlichen Informationen über den Zeitpunkt des Eintritts der Insolvenzreife zur Verfügung zu stellen.
Der Gravenbrucher Kreis spricht sich gegen ein derartiges Sonderinformationsrecht des Fiskus aus. Eine Übermittlung der Erkenntnisse des Insolvenzverwalters zum Eintritt der Insolvenzreife an die Finanzverwaltung ist mit dem Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung unvereinbar.
Im Gravenbrucher Kreis sind seit 1986 Vertreter führender Insolvenzkanzleien Deutschlands zusammengeschlossen, die sich durch umfassende Erfahrung und Kompetenz im Bereich überregionaler Restrukturierungs- und Insolvenzverfahren, häufig in Konzernsituationen und auch häufig mit Auslandsbezug auszeichnen. Die Mitglieder verpflichten sich zur Einhaltung höchster Qualitäts- und Leistungsstandards, die sie durch das exklusive, von unabhängigen Auditoren geprüfte Zertifikat InsO Excellence nachweisen. Der Kreis hat aktuell 31 Mitglieder (davon 20 aktive und 11 passive).
Seit seiner Gründung sieht sich der Gravenbrucher Kreis gefordert, das Restrukturierungs- und Insolvenzrecht sowie angrenzende Rechtsgebiete aus Sicht der Praxis fortzuentwickeln. Darüber hinaus bringt der Gravenbrucher Kreis seine Erfahrung in grenzüberschreitenden Konzerninsolvenzen ein und beteiligt sich an der Fortentwicklung internationaler Standards und Regeln im Bereich der Restrukturierung.
A. § 15b Absatz 8 InsO
Die Einführung des § 15b Abs. 8 InsO geht auf das Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG) zurück.
Mit der Vorschrift wurde die Pflichtenkollision der Geschäftsleiter im Zeitraum zwischen dem Eintritt der Insolvenzreife und der Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgelöst. Die Geschäftsleiter unterlagen hier einerseits der Pflicht zur Masseerhaltung, weshalb sie nicht selektiv Ansprüche begleichen durften, die im eröffneten Verfahren nur als Insolvenzforderung qualifiziert würden. Andererseits unterlagen sie der haftungsbewehrten Pflicht zur Steuerabführung, waren also zur Zahlung von Forderungen verpflichtet, die sich im eröffneten Verfahren gerade als Insolvenzforderungen darstellen. Mit der Vorschrift wurde die Pflichtenkollision dergestalt aufgelöst, dass keine haftungsbewehrte Verletzung der Steuerabführungspflicht vorliegt, wenn die Geschäftsleitung ihren insolvenzrechtlichen Pflichten zur Antragstellung nachkommt (BT-Drs. 19/25353, S. 11 f.).
Für die Geschäftsleiter haftungsbewehrt blieben mit der Einführung der Vorschrift jedoch insbesondere Verschleppungsfälle, wenn die Frist zur Stellung eines Insolvenzantrags fruchtlos abgelaufen ist (BT-Drs. 19/25353, S. 12). In diesen Fällen trifft sie die Haftung aus §§ 34, 69 AO.
Voraussetzung für die Anwendung des § 15b Abs. 8 InsO ist unter anderem, dass der Zeitpunkt des Eintritts der Insolvenzreife, also das Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, bestimmt werden kann. Das ist der Finanzverwaltung nach einer Evaluation des Bundesrechnungshofs zu Regelungen über die Steuerhaftung derzeit nicht möglich.
Insofern wird angeregt, den vorläufigen Insolvenzverwalter oder den Sachverständigen (§ 5 Abs. 1 S. 2 InsO) über die Feststellung des Insolvenzgrundes hinaus auch mit der Feststellung des Zeitpunkts der Insolvenzreife zu beauftragen. Alternativ wäre anzudenken, ob den Insolvenzverwalter eine Pflicht treffen sollte, die bei der Verfolgung von Haftungsansprüchen nach §§ 15a, 15b InsO gewonnenen Erkenntnisse zum Eintritt der Insolvenzreife an die Finanzverwaltung zu übermitteln.
Nach Ansicht des Gravenbrucher Kreis sind diese Überlegungen im Interesse der Gläubigergesamtheit abzulehnen. Das Ansinnen des Bundesrechnungshofs stellt sich als Versuch dar, den Fiskus – entgegen dem Sinn und Zweck der Insolvenzordnung – mit einem weiteren Informationsvorrecht zu privilegieren. Schon Ernst Jaeger erkannte 1932, dass das Vorrecht der Feind des Rechts ist (Lehrbuch des Deutschen Konkursrechts, 1932, S. 64).
1. Keine Ermittlung des Zeitpunkts der Insolvenzreife im Eröffnungsverfahren
Der Gravenbrucher Kreis teilt die Auffassung des Bundesministeriums der Justiz, dass im Eröffnungsverfahren der Zeitpunkt des Eintritts der Insolvenzreife noch nicht abschließend zu ermitteln ist. Neben der vom Bundesministerium der Justiz genannten Erwägung, dass die Aufklärung des Eintritts der Insolvenzreife mit großem Aufwand verbunden sei, der gerade in notorischen Verschleppungsfällen unverhältnismäßig sein kann, liegen die zur Prüfung notwendigen Daten und Unterlagen meist erst im Laufe des eröffneten Verfahrens vor (insbesondere auch Forderungsanmeldungen nebst den forderungsbegründenden Urkunden). Auch ein Gutachten zur retrogeraden Ermittlung des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit nach IDW S11 wird in diesem Zeitpunkt noch nicht vorliegen. Ferner kann die Ermittlung des Zeitpunkts der materiellen Insolvenz zu unverhältnismäßig hohem Aufwand führen, dessen Nutzen zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung noch unklar ist. Wird etwa der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels einer die Verfahrenskosten deckenden Insolvenzmasse nach § 26 Abs. 1 S. 1 InsO abgewiesen, würde der Nutzen für die Gläubigergesamtheit umfänglich ausbleiben.
2. Keine Übermittlung der Erkenntnisse zum Zeitpunkt der Insolvenzreife an die Finanzverwaltung
Der Gravenbrucher Kreis spricht sich gegen eine Verpflichtung des Insolvenzverwalters aus, seine bei der Verfolgung von Haftungsansprüchen nach den §§ 15a, 15b InsO gewonnenen Erkenntnisse – über die üblichen Informationspflichten hinaus (AG Köln ZInsO 2002, 595) – an die Finanzverwaltung zu übermitteln.
Ziel des Insolvenzverfahrens ist ausweislich § 1 S. 1 InsO die gemeinschaftliche Befriedigung der Gläubiger des Schuldners. Mit diesem Ziel wäre es nicht vereinbar, wenn einzelnen Gläubigern ohne sachliche Rechtfertigung eine Bevorzugung eingeräumt würde. Die Ausstattung der Finanzverwaltung mit den Erkenntnissen des Insolvenzverwalters zum Eintritt der Insolvenzreife würde allerdings eine solche Bevorzugung zu Lasten der weiteren Gläubiger darstellen.
Insbesondere in den Verschleppungsfällen, die einen weiterhin haftungsbewehrten Bereich für Steuerverbindlichkeiten darstellen, sind auch umfassende Haftungsansprüche der Insolvenzmasse gegen den Geschäftsleiter zu prüfen und ggf. durchzusetzen (§ 15b Abs. 4 S. 1 InsO). Diese Ansprüche müssen vom Insolvenzverwalter zu Gunsten der Gläubigergesamtheit – aber eben auch auf deren Kosten – aufwendig ermittelt und durchgesetzt werden. Nicht selten umfasst die Durchsetzung dieser Ansprüche auch den Klageweg, weshalb bis zur rechtskräftigen Entscheidung mitunter Jahre vergehen können.
Müsste der Insolvenzverwalter seine gewonnenen Erkenntnisse an die Finanzverwaltung übermitteln, so könnte diese – ohne den Zeitaufwand einer Klage betreiben zu müssen – einen Haftungsbescheid gegen den Geschäftsleiter erlassen (§ 191 Abs. 1 AO), auf dessen Grundlage die Finanzverwaltung gegen den Geschäftsleiter vollstrecken kann. Der vom Insolvenzverwalter auf dem Klageweg erstrittene Vollstreckungstitel dürfte dann regelmäßig nicht mehr werthaltig sein, wenn die Finanzverwaltung den Geschäftsleiter schon wesentlich früher zur Begleichung der ausstehenden Steuerverbindlichkeiten in Anspruch nehmen konnte. Unter diesem Umstand würde die Gläubigergesamtheit leiden, weil ihr nach dem Windhundprinzip ein Drittschuldner entzogen würde. Müsste der Insolvenzverwalter seine Erkenntnisse zum Eintritt der Insolvenzreife an die Finanzverwaltung weitergeben, würde er im Ergebnis zu einem Handeln verpflichtet, das der Gläubigergesamtheit – zumindest mittelbar – schaden würde. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Befriedigung des Fiskus von dem Insolvenzverwalter über das Vermögen des Geschäftsleiters nicht zwingend gem. §§ 129 ff. InsO anfechtbar wäre.
Ferner ist fraglich, ob die Erkenntnisse des Insolvenzverwalters in dem Verfahren zwischen Finanzverwaltung und Geschäftsleiter überhaupt hinreichend dienlich sind. Regelmäßig ist der Insolvenzverwalter gezwungen, auf Grundlage seiner Unterlagen und Erkenntnisse einen Haftungsprozess gegen den Geschäftsführer anzustrengen. Immer wieder bringen die Prozesse neue Erkenntnisse zu Tage (beispielsweise Stundungsabreden mit relevanten Gläubigern), die den vom Insolvenzverwalter lege artis ermittelten Zeitpunkt des Eintritts der materiellen Insolvenz zeitlich nach hinten verschieben. Werden die Erkenntnisse des Insolvenzverwalters zur Grundlage des Haftungsbescheides oder eines finanzgerichtlichen Verfahrens gemacht und stellt sich im Zivilprozess später heraus, dass der zugrunde gelegte Zeitpunkt – für den Insolvenzverwalter zum Zeitpunkt der (unterstellten) Informationsweitergabe an die Finanzverwaltung nicht erkennbar – unzutreffend ist, stellt sich die Frage der Haftung des Insolvenzverwalters. Dieser wird seine Haftung tunlichst vermeiden wollen, weshalb er seine Erkenntnisse unter Prämissen stellen wird, die deren Beweiswert auf ein Minimum reduzieren.
Derartige Versuche, in der Insolvenzordnung Fiskusprivilegien zu implementieren, sind immer wieder Gegenstand von Gesetzesvorhaben. Sie treffen sowohl rechtspolitisch als auch in der Literatur zurecht auf Widerstand. Die für den Fiskus vorgesehenen Privilegien haben spiegelbildlich eine Entrechtung der weiteren Gläubiger zur Folge und verstoßen damit gegen das Gebot der Gläubigergleichbehandlung. Teilweise wird darin sogar eine Verletzung der Eigentumsfreiheit der weiteren Gläubiger aus Art. 14 Abs. 1 GG gesehen. Darüber hinaus kann der Fiskus seine Ausfälle auf eine angemessen hohe Zahl an Schultern verteilen, während dies für die weiteren Gläubiger nicht möglich ist (Hageböke/Massuras, ZRI 2023, 185, 191 ff. m. w. N. für das wiederholte Vorhaben von Privilegien im Rahmen der sonstigen Masseverbindlichkeiten).
B. Schlussbetrachtung
Die vom Bundesrechnungshof angeregten Privilegierungen der Finanzverwaltung gegenüber allen übrigen Gläubigern sind nach der Auffassung des Gravenbrucher Kreis nicht zu implementieren. Eine gutachterliche Feststellung zum Zeitpunkt des Eintritts der Insolvenzreife kann unverhältnismäßigen Aufwand erzeugen, dem kein Nutzen für alle Gläubiger gegenübersteht, wenn das Insolvenzverfahren mangels einer die Verfahrenskosten deckenden Insolvenzmasse abgewiesen wird.
Die Verpflichtung des Insolvenzverwalters zur Übermittlung seiner im Rahmen der Verfolgung von Haftungsansprüchen nach §§ 15a, 15b InsO gewonnenen Erkenntnisse verstößt gegen den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung und zwingt den Insolvenzverwalter möglicherweise sogar zu masseschädlichem Handeln und ist deshalb ebenfalls abzulehnen.